JoGeLenz
Literatur von Johanna Gerlinde Lenz
 

Der Baum meiner Kindheit
(2010)

Die mächtige Weide hinten im Garten unweit des nicht minder stattlichen Walnussbaumes! Dahinter fließt ein Bach, jenseits des Drahtzaunes durch Nachbars Garten.
Carolin hätte der Mutter in der Küche helfen sollen, aber sie hat nur Heidi und Geißenpeter im Kopf und schleicht sich davon mit ihrem Buch.
Durch Gestrüpp und Brennnesseln bahnt sie sich den Weg zu der dicken Weide, die gerade mal drei Männer umarmen können. Das Buch zwischen den Zähnen haltend, nimmt sie Anlauf, springt, fasst Tritt in der rissigen Borke des Stammes und ergreift den ihr nächsten Ast. Dann schwingt sie sich hinauf in ihr Versteck. Mehrere starke Äste zweigen hier ab. Dazwischen haben die beiden Cousins bei einem ihrer Besuche zwei Bretter genagelt, eine Bank. Carolin setzt sich und vertieft sich in ihr Buch. Die silbrig grünen Weidenblätter umfächeln sie und hüllen sie ein. Erst der Ruf der Mutter holt sie in die Gegenwart zurück.
Der Vater hat auf Carolins Betteln hin die Brennnesseln abgemäht und ein Seil zwischen einen starken Weidenast und dem Nussbaum aufgehängt. Eine weit schwingende Schaukel für Carolin und ihre Freundinnen. Sie legen ein Kissen auf das Seil, damit sie gut darauf sitzen können. Das werden kurzweilige Sommertage.
In sehr kalten Winternächten erfriert der Walnussbaum. Er wird im darauf folgenden Frühjahr gefällt, zugleich werden auch der Weide alle Äste abgesägt, der Nachbar hat es so verlangt. Nur die Bank hängt noch schief und traurig auf dem Weidenstamm. Carolin weint. Keine Schaukel mehr, kein Versteck! Mutter tröstet Sie. „Mein großes Mädchen muss nicht mehr auf dem Baum lesen, setz dich doch unter den Kirschbaum!“ Im darauf folgenden Jahr wachsen dem Weidenstamm viele neue Zweige, er bekommt einen dichten Wuschelkopf. Carolin möchte wieder hinauf klettern. Vater warnt sie: „Vorsicht! Die neuen Äste sind noch schwach, ‚Klebeäste’, sie brechen leicht vom Stamm. Außerdem bist du gewachsen und nicht mehr so leicht.“
Einige Wochen später an einem sonnigen Sonntag im Spätsommer ist Besuch gekommen. Alle sitzen im Garten unter dem schattigen Kirschbaum um den Kaffeetisch. Carolin wird es nach einiger Zeit langweilig unter den Erwachsenen. Sie denkt an Miriam und Totila und holt sich ihr Buch: Ein Kampf um Rom. Sie möchte sich wieder einmal in ihre grüne Höhle zurückziehen. Die jungen Äste sind jetzt kräftiger geworden. Das Buch zwischen den Zähnen, springt sie wie gewohnt den Stamm hinauf und ergreift mit beiden Händen einen Ast. Sie drückt sich mit den Füßen ab und will sich gerade vollends hinauf schwingen, da bricht der Ast aus der Rinde. Sie knallt aus ca. zwei Meter Höhe mit dem Rücken auf den Boden.
Die Eltern haben Carolins Schrei gehört und eilen herbei. Sie tragen sie unter den Kirschbaum und legen sie ins kühle Gras.
„Ich kriege keine Luft, ich sterbe“, röchelt sie. Mutter massiert ihr Brust und Rücken. Langsam lässt der Krampf nach und sie kann wieder atmen.
„Ich habe dich gewarnt“, sagt der Vater vorwurfsvoll. Carolin nickt. „Es sticht so, wenn ich durchatme.“ Es sticht noch einige Zeit, denn so eine heftige Prellung spürt man lange. Carolin hat Glück gehabt. Aber die Liebe zu dem Weidenbaum war ihr ein für allemal vergangen.

Das Buch findet der Vater später unter dem Baum, Carolin hatte beide Deckel durchgebissen.

 

Was wissen wir schon von unseren Mitmenschen?

Im Supermarkt stand sie vor der Obstwaage mit zwei Bananen in der Hand. Hilflos schaute die kleine alte Frau zu mir auf: „Ach bitte, könnten Sie mir wohl helfen? Ich kenne mich mit der Waage nicht aus.“
Ich sagte: „Sie müssen die Taste eins drücken.“
Langsam legte sie die Früchte auf die Waage und näherte ihr Gesicht mit zusammengekniffenen Augen den Tasten. Zögernd drückte sie die Eins. Als das Preisschild erschien, fragte sie: „Was muss ich bezahlen? Ich kann es so schlecht lesen, meine Brille ist zerbrochen.“
Ich nahm das Schildchen, klebte es auf eine Banane und sagte, „achtundsiebzig Cent.“ Sie bedankte sich und legte die Früchte in den Einkaufswagen.
Ich wog mein Obst ab. Nachdem ich einem Blick auf meinen Einkaufszettel geworfen hatte, nahm ich einige Waren aus den Regalen: Kaffee, Schokolade, Butter, Joghurt und einiges mehr. Da sah ich sie wieder vor mir in ihrem abgetragenen Wintermantel und den halbhohen Stiefeletten. Die schütteren Haare waren zu krausen Löckchen gedreht, und ein gehäkeltes, graues Tuch wärmte ihren Hals. Mit gebeugtem Rücken stützte sie sich auf den Einkaufswagen und schaute sich aufmerksam die Waren an. Ein paar Mal griff sie ein Päckchen heraus, betrachtete es eingehend von allen Seiten, stellte es dann aber wieder ins Regal zurück. Als ich sie überholte, sah ich neben ihren Bananen ein Päckchen einfaches Toastbrot und einen Becher billige Margarine. Eine Weile später verharrte sie vor dem Korb mit dem Schild ALLE WAREN ZUM HALBEN PREIS! Sie suchte zwischen den Artikeln herum und hielt einige davon dicht an ihre Augen.
„Wie lästig ist es doch, wenn man die Preise nicht richtig lesen kann“, erinnerte ich mich daran, als ich einmal die Brille vergessen hatte. Gerade wollte ich meine Hilfe anbieten, da wandte die Frau sich an eine Verkäuferin, die Milchtüten im Regal verstaute:
„Können Sie mir bitte sagen, was hier drauf steht?“
„Das ist Streichmettwurst, kostet jetzt nur noch 1,15 Euro. In dem Korb ist aber abgelaufene Ware. Wollen Sie die wirklich nehmen?“
„Wann ist sie denn abgelaufen?“ erkundigte sich die Frau.
Die Verkäuferin suchte nach dem Datum der Mindesthaltbarkeit und sagte: „Bis heute haltbar!“
„Dann werde ich die Wurst nehmen“, sagte die Kundin und bedankte sich.
Steht es so schlecht um unsere Rentnerinnen, dass sie abgelaufene Waren kaufen müssen? Was wissen wir schon!
Es ist wohl noch viel schlimmer. Nachher in der Schlange vor der Kasse, nur eine Banane in ihrem Einkaufswagen! Die andere hatte sie stillschweigend zurückgelegt. Umständlich öffnete sie ihre abgegriffene Börse und klaubte die Münzen heraus. Ich schämte mich während ich meine Waren auf das Band packte und der Kassiererin einen Hunderter reichte. Wie gut geht es mir doch!
Was hätte ich tun sollen? Gerne hätte ich der alten Frau etwas zugesteckt, aber das konnte ihren Stolz verletzen. Außerdem wäre es nur ein Tropfen im Augenblick und keine Hilfe von Dauer. Wie schwierig es doch ist, sich in einem solchen Fall angemessen zu verhalten!

 

 

Geiz ist geil!
(Januar 2005)

Ein Werbespruch im Fernsehen, ein Anreiz, für die Altersversorgung zu sparen?
Manche nehmen es wörtlich.
Im letzten Jahr las und hörten wir in den Medien oft, die Konsumenten seien geizig geworden, hielten wegen der Arbeitslosigkeit und der Konjunkturschwäche ihre Ersparnisse zurück. Der Spruch „Geiz ist geil“ kam auf und die Geschäftsleute machten lange Gesichter. Doch im Dezember gab es wieder einen Kaufrausch, die Kassen klingelten und die Kaufleute konnten sich freuen. Sie waren mit dem Weihnachtsgeschäft zufrieden und hofften, es ginge so weiter. Aber bald nach den Festtagen setzte die Flaute erneut ein. Viele Verbraucher warteten sehnsüchtig auf den Ersten und das neue Geld.
Der Winterschlussverkauf, der alljährlich in der letzten Januarwoche stattfand, war vor zwei Jahren abgeschafft worden. Trotzdem lockten nun gleich nach Neujahr die Händler mit Sonderposten und Preisnachlässen. Die Glücklichen, die zu Weihnachten Geldgeschenke erhalten hatten, konnten die Billigangebote nutzen. Im Großen und Ganzen verhielten die Käufer sich jedoch zurückhaltend. Viele hatten im Monat vorher ihre Konten überzogen und nun müssen die Schulden abbezahlt werden. Außerdem sind im Januar häufig mehr Abbuchungen von Versicherungsraten fällig als in anderen Monaten. Nachforderungen für Heizkosten, Wasser und Strom stehen bevor. Kein Wunder, dass die Kauflust auf den Nullpunkt gesunken ist! Und da steht zu allem Überfluss groß in der Zeitung: „Die Menschen sind wieder geizig geworden!“
Und das hören und lesen wir auch: der Verbraucher ist schuld an der miesen wirtschaftlichen Lage, er muss sein Geld ausgeben, den Konsum erhöhen, damit die Wirtschaft Auftrieb bekommt, dann wird es auch wieder mehr Arbeitsplätze geben. Wer das glaubt!!!
Und Geiz ist geil! Aber für wen?