Leseprobe
Spitzentanz, Erzählungen
Der Baum meiner Kindheit
Die mächtige Weide hinten im Garten unweit des nicht minder
stattlichen Walnussbaumes. Dahinter fließt ein Bach, jenseits
des Drahtzaunes, durch Nachbars Garten.
Ich hätte der Mutter in der Küche helfen sollen, aber ich
habe nur Heidi und Geißenpeter im Kopf und schleiche mich davon
mit meinem Buch.
Durch Gestrüpp und Brennnesseln bahne ich mir den Weg zu der
dicken Weide, die drei Männer umarmen könnten. Das Buch
zwischen den Zähnen haltend, nehme ich Anlauf, springe, fasse
Tritt in der rissigen Borke des Stammes und ergreife den mir nächsten
Ast. Dann schwinge ich mich hinauf in mein Versteck. Mehrere starke
Äste zweigen hier ab. Dazwischen haben die beiden Cousins bei
einem ihrer Besuche zwei Bretter genagelt. Ich setze mich auf die
Bank und vertiefe mich in mein Buch. Die silbrig grünen Weidenblätter
umfächeln mich und hüllen mich ein. Erst der Ruf der Mutter
holt mich in die Gegenwart zurück.
Vater mäht auf mein Betteln hin die Brennnesseln ab und hängt
ein Seil zwischen einen starken Weidenast und den Nussbaum. Eine weit
schwingende Schaukel für mich und meine Freundinnen. Wir legen
ein Kissen auf das Seil, damit wir gut darauf sitzen können.
Das werden kurzweilige Sommertage.
In sehr kalten Winternächten erfriert der Walnussbaum. Er wird
im darauf folgenden Frühjahr gefällt, zugleich werden auch
der Weide alle Äste abgesägt, der Nachbar hat es so verlangt.
Nur die Bank hängt noch schief und traurig auf dem Weidenstamm.
Ich weine. Keine Schaukel mehr, kein Versteck! Mutter tröstet
mich.
Mein großes Mädchen muss nicht mehr auf dem Baum
lesen, setz dich doch unter den Kirschbaum!
Im darauf folgenden Jahr wachsen am Weidenstamm viele neue Zweige,
er bekommt einen dichten Wuschelkopf. Ich möchte wieder hinauf
klettern. Vater warnt mich:
Vorsicht! Die neuen Äste sind noch schwach, Klebeäste
sie brechen leicht vom Stamm. Außerdem bist du gewachsen
und nicht mehr so leicht.
Einige Wochen später an einem sonnigen Sonntag im Spätsommer
ist Besuch gekommen. Alle sitzen im Garten unter dem schattigen Kirschbaum
um den Kaffeetisch. Mir wird es nach einiger Zeit langweilig unter
den Erwachsenen. Ich denke an Miriam und Totila und hole mir mein
Buch: Ein Kampf um Rom. Ich möchte mich wieder einmal in meine
grüne Höhle zurückziehen. Die jungen Äste sind
jetzt kräftiger geworden. Das Buch zwischen den Zähnen,
springe ich wie gewohnt den Stamm hinauf und ergreife mit beiden Händen
einen Ast. Ich drücke mich mit den Füßen ab und will
mich gerade vollends hinauf schwingen, da bricht der Ast aus der Rinde.
Ich knalle aus ca. zwei Metern Höhe mit dem Rücken auf den
Boden, kriege keine Luft mehr.
Meine Eltern eilen herbei, tragen mich unter den Kirschbaum und legen
mich ins kühle Gras.
Ich kriege keine Luft, ich sterbe!, jammere ich. Mutter
massiert mir Brust und Rücken. Langsam lässt der Krampf
nach und ich kann wieder atmen.
Ich habe dich gewarnt, sagt Vater vorwurfsvoll.
Ich weiß! Es sticht so, wenn ich durchatme.
Es sticht noch einige Zeit, denn so eine heftige Prellung spürt
man lange. Ich habe Glück gehabt. Aber die Liebe zu dem Weidenbaum
war mir ein für allemal vergangen.
Das Buch findet Vater später unter dem Baum, ich hatte bei dem
Sturz beide Deckel durchgebissen.
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